Sonntag, 8. August 2010

Am Rand der Verteilung

Die Normalverteilung ist recht oft eine gute erste Annäherung, um die zufällige Verteilung einer Eigenschaft um einen Mittelwert zu beschreiben aus Gründen, die zu langatmig wären, um das hier zu beschreiben. Eine kurze Erinnerung ist, daß zum einen die Summe mehrerer Verteilungen sich einer Normalverteilung annähert, zum anderen, daß wir, wenn wir nur eine begrenzte Zahl an Werten haben, auch nur grob genähert sehen können, welche Verteilung wir vor uns haben. Selbstverständlich gibt es auch Eigenschaften, zum Beispiel die Lebensdauer einer wiederholt hin und her gebogenen Büroklammer, bei denen wir mit einer Normalverteilung überhaupt nicht hinkämen. Im letzten Blogbeitrag habe ich geschrieben, daß die extremen Wetterereignisse dieses Jahres uns zwei Lehren bieten. Zum einen sind sie in ihrer Häufung ein Beleg für die globale Erwärmung - ohne die globale Erwärmung würden wir zwar auch Wetterextreme erwarten, aber nicht so viele in dieser Kombination. Zum anderen zeigen uns die extremen Wetterereignisse, was wir als den Normalfall zu erwarten haben, nachdem die globale Erwärmung vorangeschritten ist. Es bleibt immer noch die Frage, wann wir denn bei einem Wetterextrem sagen können, daß es durch die globale Erwärmung verursacht wurde? Diese Frage ist so trickreich, weil im Grunde die Wahrscheinlichkeit für ein beliebiges Wetterextrem nie gleich Null ist.
Vergleich der Temperaturanomalien August 2003 (links) und Juli 2010 (rechts) nach Daten von NOAA/ESRL via WeatherUnderground.



Nehmen wir die Rekordhitze und extreme Trockenheit im europäischen Teil Rußlands. Sie wird verursacht durch ein anhaltendes Höhenhoch über dem Kontinent. Diese Witterung hat die Neigung, sich selbst zu erhalten und zu verstärken. Der hohe Luftdruck in großer Höhe führt zu absinkender Luft, die sich beim Absinken erwärmt. Durch die Erwärmung sinkt die relative Luftfeuchtigkeit. Daher ist die Luft über dem Höhenhoch wolkenfrei, es fehlen Niederschläge und die Sonne kann ungehindert einstrahlen. Dies alles führt dazu, daß der Boden trocken wird. Trockener Boden kann sich schneller erwärmen. Der jeden Tag sich schneller erwärmende Boden erwärmt die Luft darüber, die wiederum das Höhenhoch verstärkt. Wenn diese Witterung einen gewissen Grad an Intensität erreicht hat, blockiert sie diese Region effektiv gegen den Durchzug von Fronten aus dem Westen, durch die Niederschläge nach Rußland kommen könnten.

Dieses Wetter ist in jedem Sommer prinzipiell möglich. Doch wenn man die Klimadaten anschaut, kann man bestimmen, wie wahrscheinlich ein solches Wetter ist (für nähere Erläuterungen, Daten und Abbildungen verweise ich auf WeatherUnderground). Man kann berechnen, um wieviel Grad die maximale Temperatur an einem Tag über der mittleren Temperatur an diesem Tag in allen Jahren der Wetteraufzeichnungen ist. Dieses Abstand kann man normalisieren, indem man ihn durch die Standardabweichung der Temperaturdaten teilt. Dabei nimmt man an, daß die Verteilung der Temperatur einigermaßen der Normalverteilung entspricht, was auch näherungsweise gilt. Dann kann man bestimmen, in wieviel Prozent der Fälle eine Abweichung um eine oder mehrere Standardabweichungen auftreten kann. Zum Beispiel tritt in 4,5 Prozent der Fälle eine Abweichung um 2 und in 0,27 Prozent der Fälle eine Abweichung um 3 Standardabweichungen auf. Ersteres erwarten wir alle 22 Jahre, letzteres alle 370 Jahre. Die Daten aus Rußland zeigen uns nun, daß wir über Wochen hinweg in Teilen des Landes Maximaltemperaturen hatten, die wir alle 22 bis 370 Jahre erwarten würden. Die Trockenheit des Bodens ist sogar in einzelnen Regionen nur alle mehr als 500 Jahre zu erwarten. Leider können wir nicht das Produkt der Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Tage nehmen, um die Wahrscheinlichkeit einer solchen Hitzewelle zu bestimmen, denn die Höchsttemperaturen aufeinanderfolgender Tage sind sehr stark miteinander korreliert. Aber sollte in den nächsten Jahren erneut eine solche Hitzewelle in Rußland auftreten, dann könnte man sagen, daß eine kurze Abfolge von Ereignissen, die eigentlich nur alle 370 Jahre auftreten sollten, plausibel nur dadurch erklärt werden, daß die bisher gültige statistische Verteilung verlassen wurde und ein neues Klimaregime erreicht wurde. Aus einzelnen Extremwetterereignissen könnte dann auf einen Klimawandel zurückgeschlossen werden.

Wir sind aber an dieser Aussage schon näher dran, denn wir haben nicht nur die Hitzerekorde in Rußland, sondern auch mittlerweile Hitzerekorde in insgesamt 17 Staaten und unabhängigen Territorien der Erde (jeweils seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und inklusive der Einstellung alter Rekorde), zuletzt in Weißrußland. Zusammen bedecken die Rekordhalternationen nun 19% der Landfläche der Erde. Eine solche Kombination von Hitzerekorden weltweit ist ohne globale Erwärmung nicht zu erwarten. Verbunden sind diese Wetterrekorde mit gleichzeitigen Rekordniederschlägen an anderen Orten, die zu Überschwemmungen in Pakistan und China führten. Es ist diese Verbindung verschiedener Extremwetterereignisse, die sie alle letztlich auf den Klimawandel zurückführen lassen.

Die Folgen der Extremwetterereignisse sind Überschwemmungen, Waldbrände, Ernteausfälle und Hitzetote. Hier könnte der Einwand kommen, daß alle diese Folgen der Extremwetterereignisse andererseits vermeidbar wären durch Maßnahmen gegen Hochwasser, besseres Forstmanagement (der russische Präsident hatte die Forstwirtschaft in Rußland umorganisiert, wodurch erfahrenes Personal und das nötige Gerät zur Bekämpfung der Waldbrände fehlten), Anbau geeigneter Sorten, Einsatz von Klimaanlagen und dem Wetter angepaßtes Verhalten. Der eigentliche Punkt ist aber, daß der Klimawandel ein Land überhaupt erst so verwundbar macht, daß alle diese Vorbeugungs- und Abwehrmaßnahmen kritisch werden. Geht der Klimawandel weiter, werden auch Extremwetterereignisse wahrscheinlich, bei denen auch die verbesserten Vorbeugungsmaßnahmen nicht mehr ausreichen - man ist also ständig im Zugzwang und muß sich im Grunde dauernd auf das Eintreten eines Jahrtausendereignisses vorbereiten. Das ist zumindest sehr teuer. Und noch mehr. Im Juli sind allein in der Moskauer Region 5000 Menschen mehr gestorben als normal für diesen Zeitraum. In der gesamten Region, die von extremer Hitze betroffen ist, könnten diesen Sommer leicht wieder die 40.000 zusätzlichen Todesopfer erreicht werden, die schon 2003 für Europa in einer anderen Hitzewelle gemeldet wurden. Zugegeben: auch ein sehr kalter Winter kann für zehntausende Todesopfer durch Erfrieren und Atemwegserkrankungen führen. Aber diese extremen Hitzewellen erzeugen wir selbst, und damit sind die Hitzetoten direkte Folge unserer ständigen Ansammlung von Treibhausgasen in der Atmosphäre. Das ist der Unterschied. Mehr zum Thema im Blog von Michael Tobis.

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